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Gefangene des Wissens
essay [ ]
über Meinung und Interpretation

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by [mehdi ]

2005-01-04  | [This text should be read in deutsch]    | 



Jeder Mensch spricht sich, indem er eine Meinung artikuliert, einer entsprechenden Gruppierung zu. Diese Gruppe und ihre Begriffe schreiben die Meinungen förmlich und inhaltlich vor. Die Annahme, jeder könne sich seine Meinung frei bilden, ist ein Trugschluss, denn es ist unmöglich, unbefangen von seinem Wissen und seiner Kenntnis zu entscheiden.

Mein Blatt ist zwar unbeschriftet, aber nicht leer, wenn ich mich an einem Aufsatz versuche. Das Thema, das ich beschreibe, beinhaltet meine innere Haltung, meine Vorstellung von richtig und falsch – und ich meine Thema hier im musikalischen Sinn: als ein Motiv, das sich an jeder Stelle des Hervorgebrachten zeigt, als etwas, das meinem Produkt seine Farbe und seine Richtung geradezu diktiert. Dieses Thema existiert vor dem Schreiben des ersten Wortes und was ihm innewohnt, kann ausgedrückt werden.

Was ich weiß, hält mich gefangen. Es zwingt mich zur Einordnung jeglicher Objekte und Subjekte in ein Raster aus Einzelmerkmalen, das es mir ermöglicht, sie zu benennen und in mein Denken einzubeziehen. Hier herrscht ein schwieriges Verhältnis. Wir benötigen dieses Raster, um die Dinge überhaupt begreifen zu können und von vornherein schreibt uns dieses Raster genau vor, wie wir etwas begreifen können. In einem Beispiel: Um ein orangefarbenes Hemd zu begreifen, brauchen wir erstens die Gewissheit, dass es ein Hemd ist (und keine Hose) und zweitens, dass es orange ist (und nicht türkis). Sehen wir es vor einem Geschäft aushängen, begreifen wir es nicht bloß als ein orangefarbenes Hemd, vielmehr fassen wir es im gleichen Moment als schön oder hässlich, interessant oder langweilig, alt oder (wieder) modern usf., auf.

Schreibe ich also meine Zeilen, so interpretiere ich ständig. Ich versuche einen Gedanken auszudrücken, der zahllose Wurzeln und Einflüsse vereint. Für jeden Bestandteil des Konzepts musste ich einst interpretieren, um ihn einzuordnen, und in diesem Moment beziehe ich einige dieser Impressionen und verknüpfe sie zu einer neuen Form, zu einer neuen Verbindung aus bekannten Einzelheiten. Neu ist der Gedanke deswegen nicht, wahrscheinlich ist er schon oft gedacht und geäußert worden. Seine Hülle mag einzigartig sein, sein Gehalt ist Collage. Gleichmaßen sind Meinungen und vermeintliche Individualitätskennzeichen oft uneigentlich und zusammengeschnitten – ständig unfreiwilligen Angleichungen unterworfen. Diese Angleichungen vollziehen sich nicht gewollt, sie sind einem zuwider. Erkennt man etwas als wahr und gut an, stellt aber fest, ein Bekenntnis widerspräche seiner sich selbst zugesprochenen Meinung, so kommt man in große Verlegenheit und es liegt nahe, der bewährten Meinung weiterhin zu entsprechen, d.h. der Gruppe ihrer Vertreter treu zu bleiben und seinem inneren Gefühl zu entsagen.

Endgültig entsagen kann dieser Empfindung allerdings niemand. Sie ist eine unbewusste Interpretation, die offenkundige Meinung hingegen, ist eine bewusst interpretierte. Auf beiden Ebenen haben wir keinen Einfluss auf die Art der Rezeption und Verinnerlichung; in unserer Auslegung der Ereignisse sind wir manipulierbare Gefangene unseres Wissens.

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