agonia
english

v3
 

Agonia.Net | Policy | Mission Contact | Participate
poezii poezii poezii poezii poezii
poezii
armana Poezii, Poezie deutsch Poezii, Poezie english Poezii, Poezie espanol Poezii, Poezie francais Poezii, Poezie italiano Poezii, Poezie japanese Poezii, Poezie portugues Poezii, Poezie romana Poezii, Poezie russkaia Poezii, Poezie

Article Communities Contest Essay Multimedia Personals Poetry Press Prose _QUOTE Screenplay Special

Poezii Românesti - Romanian Poetry

poezii


 
Texts by the same author


Translations of this text
0

 Members comments


print e-mail
Views: 3290 .



Die schwarze Witwe
prose [ ]
(Fragment aus dem Roman "Die Halskette der Aphrodite")

- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
by [Stuparu ]

2006-11-13  | [This text should be read in deutsch]    | 



Christian schlug das Manuskript zu – eine alte Ausgabe des Summum Bonum von Magister de Fluctibus -, das in einer speziellen Abteilung der Unibibliothek aufbewahrt wurde, knipste die Lampe aus und lehnte sich erschöpft an die Stuhllehne, wĂ€hrend er nachdenklich das Buch beobachtete, das vor seinen mĂŒden Augen auf dem Tisch lag. Widerwillig wie eine Frau, die keineswegs ihr Geheimnis preisgeben wollte, erwies sich der lateinische Text besonders schwierig - die Ideen des Alchimisten, undurchsichtig. Sed libertas vera Sapientiae servire, dachte er sich.

Es gelang ihm noch, ein fast unhörbares Versprechen zu Ă€ußern - an einem spĂ€teren Tag zurĂŒckzukehren, um das RĂ€tsel letztendlich zu entziffern -, dann sammelte er seine Papiere und stand auf. Er fĂŒhlte sich ahnungslos und eine leichte Welle von Unzufriedenheit umwebte ihn, wie jedes Mal, wenn er sich von den BĂŒchern verabschieden musste, “seinen anĂ€mischen LebensgefĂ€hrtinnen”, wie ihn seine Freunde, die fast ohne Ausnahme in ihm einen seltenen und einsamen BĂŒcherwurm sahen, verspotteten.

Er verließ die finstere Ecke des Lesesaals, in der er so lange saß und welche schwach beleuchtet war, schritt an den BĂŒcherregalen vorbei, die der MediĂ€vistik vorbehalten waren, warf am Ende noch, einem alten Automatismus folgend, der in den langen Jahren der wiederholten Fluchten aus der OberflĂ€chlichkeit der tĂ€glichen IrrealitĂ€t in die abstrakte und aufreizende RealitĂ€t der BĂŒcher geformt wurde, einen Blick hinter sich, bevor er den Raum verließ, um sich zu vergewissern, dass er nichts vergessen hatte, und nĂ€herte sich dann dem Ausgang.

Als er vor dem Kustode stand, umarmte er den Band, presste ihn gegen die Brust und blieb einfach stehen, unentschlossen, zur grĂ¶ĂŸten Verwunderung des Menschen, der ruhig am Tisch saß und ihm ĂŒber den Brillenrahmen einen verworrenen Blick zuwarf. Dann gab er mit unsicheren Gesten unter den beobachtenden Augen des LesesaalwĂ€chters das Manuskript ab. Zum Schluss nahm er resigniert seinen Ausweis vom Pult und verließ den Saal. Dann ging er die Treppe runter ins Erdgeschoss und trat in den Eingangsflur.

Als Abschlussjahrstudent an der FakultĂ€t fĂŒr Philosophie bereitete Christian sich auf seine LizenzprĂŒfung vor, worunter er einen hermeneutischen Aufsatz ĂŒber die Ideen des großen Spagyristen verstehen wollte - eine Art clavis philosophiae et alchymiae fluddanae. Er konnte aber unter seinen Studienkollegen keinen WeggefĂ€hrten fĂŒr diese Ideen finden. Die Philosophie der Kultur regte sehr wenige noch an und eigentlich war er der Einzige in seiner Gruppe, der wirklich an den Denkern des Mittelalters oder der Renaissance interessiert war.

Nun war er schon unten auf dem Flur und eilte in Richtung Umkleidekabine. Er versuchte HĂ€nde und Nacken ein wenig zu entspannen, massierte sich das Handgelenk der rechten Hand, die fĂŒr einige Stunden den Kuli festhielt, und straffte den RĂŒcken. Eine leichte MigrĂ€ne befiel ihn nach den paar guten Stunden, die er im Lesesaal verbracht hatte. Dann sah er auf die Uhr: Es war fast sieben. Er nahm seine Sachen aus dem Schrank, reichte dem Pförtner den SchlĂŒssel und trat ins Freie.

Christian fĂŒhlte sich ein wenig unsicher, das Gehen nicht mehr richtig gewöhnt auf dem schmutzigen Gehsteig neben dem Kunstnationalmuseum. Seine Sinne waren wie gelĂ€hmt. Es war Freitag, 24. Juni, ein Abend genauso banal wie jeder andere – in der Hauptstadt fing der Wochenendewahnsinn gerade wieder an. Christian ĂŒberquerte die Siegestrasse in Richtung Kretzulescu Kirche und schlenderte auf den „Humanitas“-Buchladen zu, wo er vor geraumer Zeit ein interessantes Buch ĂŒber Albrecht DĂŒrer im Schaufenster gesehen hatte, ohne das nötigte Geld dafĂŒr bei sich gehabt zu haben. Als er aber den Gehsteig erreichte, blieb er brĂŒsk stehen. Geheimnisvoll und undefiniert zog ihn etwas nach rechts, zur CĂąmpineanu Strasse hin. Christian vergaß plötzlich das Buch. Lilianes Bild war in seinem GedĂ€chtnis aufgetaucht. Ein seltsames GefĂŒhl, dass sie an ihn denken wĂŒrde, ermĂ€chtigte sich seiner.

Er machte ein paar Schritte in Richtung des Cişmigiu Parks, als er sich dem unklaren GefĂŒhl ĂŒberließ, das von ihr stammte, ging aber entschlossen weiter, begleitet von ihrem Bild. Als er Am Parkeingang angekommen, blieb er wieder mal stehen, durcheinander. Er konnte keinen Entschluss fassen, in welche Richtung er weiter gehen sollte. Lili wohnte auf der Sylphidenstrasse. Er hĂ€tte ziemlich einfach dorthin gelangen können, wenn er nach links in den Park, aufs Rathaus zu eingebogen wĂ€re. Von dort aus waren es nur noch ein paar Schritte bis zu ihrer Wohnung. Es gab aber irgendwas, das ihn zweifeln ließ und zum Nachdenken zwang: Er hatte noch eine U-Bahnkarte und zwei Busfahrscheine bei sich. Also entschied er sich nach rechts einzubiegen, in Richtung der Eminescu-Quelle, die sich neben einem der zahlreichen AusgĂ€nge des Parks befand.

Nach einigen Schritten kam er aus dem Park heraus, hechtete die großen steinigen Treppen hinauf und stieg rasch in einen Bus ein, der soeben die Haltestelle verließ. Er hatte kaum Zeit zu Atem zu kommen, schon bog der Bus kurz nach rechts in die Siegesstrasse und hielt mit Reifenquietschen vor den Horizontkunstgalerien an. Christian verließ den Bus, schritt durch ein Meer von anonymen Gesichtern in Richtung UniversitĂ€t und stieg zuletzt die Treppe zur U-Bahn hinunter.

Lili wohnte noch mit ihrer Schwester und ihren Eltern in einem alten Wohnblock auf der Sylphidenstraße. Sie war auch Studentin – aber im Studienfach Klassische Philologie, nicht Philosophie, wie Christian, der mehr von der Exegese der alten Texte angezogen war, als von deren Studium aus einem rein linguistischen Standpunkt. Dieselben boshaften Kollegen, die ihn schikanierten, waren daran gewöhnt Liliane gleichfalls auf den Arm zu nehmen, und nannten die platonische Freundschaft der beiden köstlich eine nuptia Mercurii et Philologiae. Christian öffnete eine eiserne Pforte, die sich hinter ihm mit einem gespenstischen Quieken schloss, kam in den Innenhof, durchschritt einen finsteren, von suspekter Ruhe umgebenen Gang und gelangte letztendlich in das GebĂ€ude.

Das Treppenhaus war kalt, dunkel. Christian bekam das seltsame GefĂŒhl, das man beim Tauchen bekommt: Es war, als ob er in eine andere Welt treten wĂŒrde, ins Reich der Schatten. Sein Atem blieb fest. Das Licht der Sonne durchdrang mit Schwierigkeit die kleinen Fenster im Treppenhaus, worin eine schattenhafte, drĂŒckende ObskuritĂ€t herrschte. Christian ging leise, fast zeremoniell die Treppe hinauf.

Liliane wohnte in einer Mansarde im vierten Stock, wo ihre Eltern eine Wohnung in altem Stil besaßen, mit großen, zahlreichen Zimmern. Und unzĂ€hligen Fenstern, dachte er, an denen sie manchmal ihr Gesicht nur ihrem Geliebten allein zeigt. Er fĂŒhlte sich wie in einem mittelalterlichen Schloss, auf dem Weg zum entferntesten Zimmer im höchsten Turm. Und wenn es so ist, dann werde ich den Drachen erst mal aus dem Felde schlagen mĂŒssen, bevor ich zu ihr gelange, um sie von dem Zauber, der sie fesselt, zu befreien, dachte sich Christian, als er vor ihrer TĂŒr stand.

Auf einem kleinen, metallisch-glĂ€nzenden Plakat stand leserlich: Fam. Theodorescu. Er klopfte leise und wartete angestrengt auf das Erscheinen des DĂ€mons. Hinter der TĂŒr, die sich kurz danach öffnete, stand aber Eva, Lilianes Schwester. Christian konnte sich ein kaum spĂŒrbares LĂ€cheln nicht verkneifen.

“Hallo Eva, wie geht es Dir?”, grĂŒĂŸte er anscheinend unbekĂŒmmert. Er wollte von Anfang an einer Frage hinsichtlich seines Besuchsgrundes ausweichen. Christian hatte es aber mit einer Frau zu tun, und nicht mit irgendeiner, sondern mit Eva.

“Meine Schwester fĂŒhlt sich heute nicht gerade wohl”, entgegnete sie kurz, als sie den GĂŒrtel ihres Bademantels, den sie anhatte, fester schnĂŒrte. “Sie hat keine Lust auf Besucher – nicht einmal auf dich!”, fĂŒgte sie ausdrĂŒcklich hinzu. Eva war ein vernĂŒnftiges Wesen, kalt-gesellig und schlau, das Gegenteil von Liliane, die manchmal unberĂŒhrt von ihrer Umgebung zu sein schien, zurĂŒckgezogen in eine nĂ€chtliche Welt des TrĂ€umens und der Einsamkeit, dem gewöhnlichen Eindruck, den die beiden Schwester auf die Neubekannten machten, völlig zuwider.

“Ich glaube, sie weiß schon, dass ich vorbeikommen sollte!”, versuchte Christian sein GlĂŒck erneut. “Ich wollte sie zu einem Spaziergang durch die Stadt einladen oder ins Kino
”, sagte er noch in einem Ton, der ihn selbst wunderte.

“Keine Chance”, erwiderte Eva kaltblĂŒtig. “Die hat sich in ihrem Zimmer eingesperrt und will nicht mehr rauskommen. Seit gestern Abend hat sie nichts mehr gegessen, sie scheint schwarz wie der Tod und schwer wie Blei zu sein. Frag mich nicht warum!”, fĂŒgte sie hinzu, genauso kalt wie zuvor. “Aber, wenn du sowieso ins Kino möchtest, dann solltest du auch wissen, dass ich heute Abend noch nichts vorhabe“, und als sie das sagte, verĂ€nderte sie ihren Ton und warf ihm einen lustvollen Blick zu. „Also, wenn du heute nacht eine Partnerin brauchst
 I‘m all yours!”

Christian wurde nachdenklich. Er war wieder in Versuchung geraten! Eva hatte als Frau ihre unleugbaren Vorteile – einen schlanken, hĂŒbschen Körper, eine volle, appetitliche Brust, die zur Befreiung der Sinne einlud – all das von einer Insolenz verdoppelt, die sie fast unĂŒbertrefflich machte. Eine echt unwiderstehliche Blondine, dachte Christian. Vielleicht etwas oberflĂ€chlich
, sagte er sich noch, als sein Blick via Körper ihr Antlitz streifte, aus dem ihn zwei eiskalte, stahlblaue Augen anstarrten. Christian fĂŒhlte, wie eine KĂ€ltewelle ihn umgab.

“Ist sie vielleicht krank?”, fragte er und versuchte das Thema zu Ă€ndern. Was kann mit ihr bloß los sein?

“So etwas in der Art”, versetzte Eva völlig gleichgĂŒltig. “Sie will eigentlich niemand sehen, verstehst du nicht? Außerdem leidet sie anscheinend unter einer fast ansteckenden Thanatophilie
”, fĂŒgte Eva mit affektiertem Ton hinzu, der Christian lĂ€cheln ließ. “Unsere Eltern sind heute Abend ausgegangen, nur damit sie Liliane loswerden. Das heißt, dass wir das ganze Haus fĂŒr uns allein zur VerfĂŒgung haben
”, zog sie letztendlich den Schluss, und begann den BademantelgĂŒrtel erotisch zu entknoten, wĂ€hrend sie ihre Lippen mit der Zunge befeuchtete. Christian fĂŒhlte, wie sein Glied steif wurde und die Erde unter seinen FĂŒssen zu wanken begann.

“Ich will trotzdem mit ihr reden”, sagte er mit gedrosselter Stimme, kaum noch Luft bekommend. Er blickte nach unten, geniert und mit sich hadernd, weil er seine GefĂŒhle nicht beherrschen konnte. Er verlor Terrain, eindeutig, und alles war noch lange nicht vorbei.

“Na ja, wie du meinst!”, gab Eva nach, etwas aufgeregt und enttĂ€uscht, wĂ€hrend er seinen Augen nicht glauben konnte, dass sie ihn los ließ. “Sie ist in ihrem Zimmer. Aber falls du noch an mich denkst und meine Schwester langweilig findest”, sagte sie noch, bevor sie ein letztes Mal zum Angriff ĂŒberging, “findest du mich in der Badewanne.” Und als sie die Worte aussprach, drehte sie sich um und schritt sensuell aufs Badzimmer zu, den Bademantel langsam hinunterfallen lassend und Christian den nackten Hintern sowie ein fabulöses Paar HĂŒften anbietend.

Der hatte mal wieder einen Schock. Er bekam noch einen Schlag unter die GĂŒrtellinie und in sein hochtrabendes, asketisches Verachten des weiblichen Geschlechtes hinsichtlich solcher GeschĂ€fte. Er fĂŒhlte den Drang ihr nachzufolgen und machte einen Schritt in die gleiche Richtung, schloss die Augen und atmete tief ein, in einem fast verzweifelten Versuch, sich aus ihrem Zauberbann zu befreien.

Er wurde aber von ihrem ParfĂŒm umwoben, ja durchdrungen, und fĂŒhlte, dass er ersticken wĂŒrde. Er sah sich von DĂ€monenscharen umgeben, angegriffen, und glaubte sich entdeckt und verletzbar. Dann, auf einmal, bemerkte er das Bild Lilianes in einem Lichtschein, der die Finsternis auflöste und ihn von der fesselnden Kette befreite. Er wachte wieder auf und öffnete die Augen. Einen schweren Kampf mit dem Zerberus hatte er schon erwartet, aber auf so etwas war er eigentlich nicht vorbereitet. Das Ungeheure befand sich in ihm selbst und er musste es besiegen. Er musste die Bestie mit ihren eigenen Krallen umbringen. Das Bild Evas wĂŒhlte seine GefĂŒhle auf. Bald aber erinnerte er sich ihres kalten Blickes, ihrer eiskalten Augen, und kam wieder zu sich. Dann hörte er das Wasser im Bad fließen und nĂ€herte sich auf den Fußspitzen Lilianes Zimmer.

Er tritt leise auf. Durch die spaltweit geöffnete TĂŒr kam kein GerĂ€usch von Innen. Das Zimmer war völlig in Dunkelheit versunken. Christian schlich lautlos hinein. In der Mitte der kleinen Stube, auf einem kleinen Hocker, mit den Ellbogen auf den Knien und den Kopf in die HĂ€nde gestĂŒtzt, saß Lili in Gedanken vertieft und schien ihn nicht zu bemerken. Große VorhĂ€nge bedeckten die Fenster und nur an den Ecken kamen noch Lichtstrahle durch, den Eindruck einer Sonnenfinsternis erweckend, einer schwarzen Sonne. Die Lampe leuchtete weich in einer Ecke auf dem Nachttisch.

“Hallo Liebling, ich hoffe, dass ich dich nicht in einem ungĂŒnstigen Moment erwischt habe! Eva hat mir die TĂŒr aufgemacht, sie meinte, du wĂ€rest krank? Wie ich sehe, stehst du hier in der Dunkelheit, verschlossen wie in einer Gruft. Übst du vielleicht gerade eine Art asketischer Mortifizierung, von der ich noch nichts gehört habe? Was ist mit dir los?”

Lili richtete sich auf, ein wenig ĂŒberrascht, als sie ihn im Zimmer sah; dann seufzte sie, seinem Blick ausweichend, und sagte kurz: “Nichts besonderes, eine persönliche Angelegenheit.“ Christian blieb stehen, verlegen, verwirrt.

“Ich verstehe, dass du nicht gestört werden möchtest”, sagte er nachdenklich und tat so, als ob er umkehren wolle.

“Warte mal”, flĂŒsterte Lili, als sie ihre bisherige melancholische Position verließ. “Komm zurĂŒck, mach die TĂŒr zu, ich werde dir alles erzĂ€hlen”, sagte sie, und atmete tief ein. “Es geht um meine Tante aus Griechenland, ich habe dir von ihr vor einiger Zeit schon erzĂ€hlt. Sie ist in unserer Familie fĂŒr ihre Weisheit und Schlagfertigkeit berĂŒhmt. Auf jeden Fall, mir kommt es vor, dass sie vielmehr so tut, als dass sie wirklich weise wĂ€re!” Christian schien verwundert zu sein. “Lass mich dir mal erklĂ€ren”, fuhr Lili fort. “Komm, setz dich hin. Sie ist der Nachkömmling einer alten phanariotischen Familie aus dem alten Wallachen-Reich. In den letzten zwanzig Jahren hielt sie sich aber vielmehr in Griechenland auf, ihre Zeit mit zahlreichen Pilgerfahrten verbringend, und nun, da sie Witwe wurde, und auch noch fast achtzig, hat sie auf einmal den Entschluss gefasst, nach RumĂ€nien zu reisen, um die Ortschaften, die ihr so lange vor der Auswanderung vertraut waren, mal wieder zu sehen. Obendrein will sie auch die letzten Verwandten, die sie noch hier hat, besuchen, damit sie sich richtig von den 'unwĂŒrdigen Söhnen der Witwe', wie sie uns zu nennen pflegt, verabschieden kann. Nun handelt es sich um den Gobelin, von dem wir vor einiger Zeit gesprochen haben. Sie scheint damit nicht besonders zufrieden zu sein. Erinnerst du dich noch an das Modell?”

”Sicher kann ich mich daran erinnern, das hab ich dir selber doch vorgeschlagen, was gefĂ€llt der alten Dame nicht?“, fragte Christian aufgeregt, verletzt in seiner Selbstliebe.

“Es geht nicht um das Vorbild, in dieser Hinsicht erklĂ€rt sie sich befriedigt. Das Problem besteht darin, dass der Gobelin schon fertig ist, und trotzdem hat sie noch manches zu bemĂ€ngeln. Ich weiß nicht, was ich noch sagen könnte, bald wird sie eigentlich nicht mehr unter uns sein und ich hĂ€tte mir gewĂŒnscht, dass sie zumindest jetzt auf mich stolz wĂ€re, weil es schon höchste Zeit ist. Den anderen Verwandten ist es sowieso völlig egal, ob sie lebt oder stirbt. Die warten nur noch auf eine Erbschaft von ihr. Ich aber kann sie nicht fĂŒr immer so gehen lassen, beunruhigt und bekĂŒmmert. Das ist es, worauf es ankommt, verstehst du? Ich habe ziemlich hart gearbeitet, um den Gobelin fertigzustellen, damit sie ihn sehen kann, und nun, anstatt mir ein zartes Wort zu schenken, fĂ€hrt sie fort mit ihrem Kritisieren, als ob nichts passiert wĂ€re. Offensichtlich ist sie auch der Ansicht, dass mir das Modell von einem anderen suggeriert wurde, weil sie mir soviel Klugheit nicht zutraut.“

Christian wurde jetzt wieder aufmerksam. Er richtete sich auf und nahm sich in Acht. “Der Titel aber”, fuhr Lili fort, ohne auf ihn zu achten, “kommt ihr nicht besonders hervorragend vor, eher banal – Dat rosa mel apibus –, das kann man doch auch im Bild sehen. Der Titel sollte vielmehr etwas Unterschiedliches andeuten, vielleicht ein bisschen subtiler, weniger offenkundig.” Christian regte sich auf wie ein Kater, der Fußtritte verspĂŒrt.

“Was soll der Scheiß? Nicht besonders hervorragend? Eher banal? Was glaubt sie bloß, wer sie ist? Auf Ehrenwort!”, Ă€ußerte er noch, als seine ungezĂŒgelte Wut ausbrach. “Was weiß sie bloß von der hermetischen Philosophie? Hat sie vielleicht eine bessere Idee?”, fĂŒgte er noch mit Emphase hinzu, als er den Kopf einem fiktiven Auditorium zuwandt, von der Rhetorik seiner Frage ĂŒberzeugt.

“So schaut’s aus”, erwiderte Lili unbefangen, als sie ihm einen Zettel reichte, unbeeindruckt von seiner kindischen Afferei. Christian entfaltete das Blatt Papier, und las mit Schwierigkeit vor: „Φησι σιωπϖν.” FĂŒr eine Sekunde fĂŒhlte er sich verloren. Dann aber fand er mal wieder seinen justizreifen Schwung:

“Was soll das heißen? Was steht hier, willst du mich auf den Arm nehmen? Du weißt genau, dass ich nicht Griechisch kann! Willst du mich etwa demĂŒtigen?”

Lili entgegnete mit gedĂ€mpfter Stimme: “Sprich schweigend.”

“Was soll ich tun?”, donnerte Christian aufs neue los, die Rolle eines Boten der himmlischen Wut immer ernster nehmend.

“Sprich schweigend, das ist die Übersetzung der Wörter auf dem verdammten Zettel! Es wĂ€re eine Alternative zu dem von dir vorgeschlagenen Titel. Und reg dich doch nicht auf, wenn dir diese Idee nicht gefĂ€llt, verzichten wir auf der Stelle drauf. Ich weiß nicht, was meine Tante mit diesem seltsamen Imperativ vorhatte
”

“Warte mal!”, sagte Christian, als er wieder mal zu sich kam. “Warte ein Momentchen
 Sprich schweigend
 wo habe ich denn bloß diese Worte frĂŒher mal gehört?”, fragte er sich und ließ sich in Gedanken versunken nieder. “Ich glaube, es geht auf die Iphigenie des Euripides zurĂŒck
”, sagte er noch nachdenklich.

Diesmal war Lili an der Reihe sich blau zu Àrgern:

“Wie bitte? Iphigenie
? Noch eine antike Tragödie? Diese Frau hat mich auf die Palme gebracht mit ihren Texten! Heute Antigone, morgen Elektra, nun die Iphigenie! I wonder who‘s next?”, rief sie aus, mit beiden HĂ€nden durch die Leere des Raumes fuchtelnd.

“Beruhige dich Lili, sag keinen Unsinn!”, sprach Christian beruhigend. “Vielleicht hat sie doch letzten Endes recht
“ Was um Himmels Willen meinte sie nur mit diesem Zitat, dachte er sich und begann der alten Tante Kredit zu gewĂ€hren, je mehr er darĂŒber nachdachte.

“Weißt du was, SchĂ€tzchen? Ich habe das GefĂŒhl, dass du gar keine Ahnung hast, was du eigentlich willst!”, stellte Lili fest und wirkte wieder verbittert. “Als ob ich nicht genug um den Kopf hĂ€tte
”, sagte sie noch, drehte sich um, stellte sich untröstlich vor das Fenster und begann zwischen den verschlossenen VorhĂ€ngen durch die Scheiben zu gucken... Christian sah ihr ratlos zu.

“Ich muss unbedingt zur Toilette”, log er linkisch und verließ das Zimmer. Liliane blieb erneut allein. Im nĂ€chsten Augenblick aber hörte Christian draußen auf dem Flur das Badewasser fließen und erinnerte sich an Eva.

“Verdammt!“, murmelte er, “aus dem Regen in die Traufe! Nun ist alles vorbei!“ Er wollte Eva nicht wieder treffen, aber zurĂŒck ins Zimmer konnte er auch nicht gehen. So richtete er den Blick zum Ende des Flures, der zu den anderen Zimmern fĂŒhrte. Und dieser schien ihm auf einmal lang und unheimlich. Von dort strahlte ihm eine seltsame AtmosphĂ€re entgegen. Das diffuse Licht fĂŒllte den Flur mit einer Art weißem Nebel. Christian fĂŒhlte einen kalten Schauer, der ihm die HĂ€nde streichelte. Es war ihm, als befĂ€nde er sich in einem Tunnel, durch den Geister hin und her schwebten. Dann, plötzlich, fĂŒhlte er eine seltsame Gestalt in seiner NĂ€he. Er richtete den Blick auf und sah drei funkelnde Lichter, die ihm entgegenzukommen schienen.

Er blieb stehen. Vor ihm befand sich ein grandioser Schatten. Die unerwartete Erscheinung hielt einen Kerzenhalter mit drei Armen in einer Hand. Dann gelang es ihm das Antlitz des alten, jedoch edlen Wesens mit den Augen zu fassen und wurde gewahr, dass er vor der Tante der beiden MĂ€dchen stand. Die alte Dame musterte ihn mit einem himmelblauen, faszinierenden Blick. Auf ihrer Brust, neben dem Herzen, schimmerte diskret durch eine Öffnung ihres langen Kleides, das sich wie eine Robe entfaltete, eine silberne Eule mit Rubinaugen.

“Wohin, mein Junge?”, fragte sie und ihre Stimme hallte aus der Ferne wider wie ein Echo. “Pass auf dich auf
”, sagte der seltsame Gast noch wie ein unsichtbarer HĂŒter auf der Schwelle zwischen zwei Welten.

“Sie mĂŒssen Lilianes Tante sein”, erwiderte Christian etwas verlegen.

“Genau die”, bestĂ€tigte sie und verbeugte sich ein wenig zeremoniell. “Sie ist meine Nichte und ich bin echt stolz auf sie, obwohl sie manchmal ganz ehrgeizig und stockig sein kann, genauso wie ich. Ich weiß, dass sie ĂŒber mein Urteil tief betrĂŒbt ist, nun muss ich zu ihr, mal sehen, ob sie meine Meinung immer noch ĂŒbertrieben findet
”

Christian beobachtete die Frau, als sie sich entfernte und gespenstisch in das Zimmer des MĂ€dels ging. Dann blieb er allein. In einer Nische neben der Ecke gab es einen kleinen Waschraum. Er ging hinein. An der Wand war ein Waschbecken angebracht, daneben hing ein schmutziges Handtuch. Er schaltete das Licht ein: TrĂ€umte er oder war das alles wahrhaft? WorĂŒber sprach die Alte nur? Er sah in den Spiegel. Sein eigenes Gesicht kam ihm nun – wegen des trĂŒben, schwachen, schattenhaft flackernden Lichtes im Raum – deformiert wie das eines Kadavers vor. Er wusch sich die HĂ€nde und wagte es nicht mehr den Blick zu erheben. Schnell trocknete er die HĂ€nde ab und ging verwirrt zurĂŒck. Was zum Teufel passierte da? Er konnte nichts mehr verstehen und musste unbedingt mit jemand sprechen, sonst wĂŒrde er wahnsinnig werden. Durch denselben unfreundlichen Flur kam er zurĂŒck ins Zimmer..

“Meine Damen...”, sagte er beim Eintreten und nahm sich vor höflich zu sein. Aber er beendete seinen Satz nicht. Niemand war mehr da. Wohin waren die zwei Damen auf einmal verschwunden? Kaum hatte er Lili im Zimmer verlassen, war doch die Alte eingetreten
 Durch die VorhĂ€nge, die nun zur Seite gezogen waren, tauchten blutige Sonnenuntergangsstrahlen das Zimmer in ein unwirkliches, traumhaftes Licht. Christian drehte sich um. Auf der gegenĂŒberliegenden Wand bemerkte er plötzlich den Gobelin, den Lili gestrickt hatte. Die Lichtstrahlen flimmerten und streichelten die tiefrote Rose in der Mitte des Gewebes, sich wie in einem Spinnengewebe widerspiegelnd. Erst jetzt konnte Christian das Bild wirklich betrachten. Und er blieb verblĂŒfft stehen, erstarrte, als er das Modell erkannte. Dieselbe ungeheure Rose, dieselben BlĂŒtenblĂ€tter, von denen Magister de Fluctibus ehemals sprach


Dann glaubte er in der Mitte der Blume etwas zu bemerken, das sich leicht bewegte. Auf den BlĂŒtenblĂ€ttern der Rose, wie auf einem ausgestreckten Tuch eine kleine, winzige Spinne, vom Licht der Sonne höchstwahrscheinlich gestört, kletterte mit zĂ€rtlichen, fast unmerklichen Bewegungen von der Mitte der Blume in die rechte obere Ecke des Gobelins, der noch im Halbdunkel versunken war. Dort angekommen, hielt sie inne und verschmolz aufs neue mit dem Bild. Christian war es, als ob das kleine Wesen, das er zwar nicht mehr sehen konnte, dessen Anwesenheit ihm aber bewusst war, ihn beobachte. Es schien ihm, das faszinierende, schimmernde Auge der alten Dame wĂŒrde ihn aus der Ecke des Gobelins beobachten, ja ihn in ihr Netz ziehen


Aus dem anderen Zimmer hörte Christian plötzlich wieder das Wasser in der Badewanne fließen. Er schloss erschrocken die Augen und wartete nur noch, dass Eva die TĂŒr aufmacht und hereintritt. Das Quietschen der TĂŒr ließ ihn erschöpft auf ein Wunder warten. Endlich hörte er Lilianes vertrĂ€umt warme Stimme an seinem Ohr.

“Bist du bereit, Liebling? Gehen wir heute noch ins Kino... oder auch nicht?”

Christian wachte wie aus einem Alptraum auf und öffnete die Augen. Lili stand neben ihm in einem eleganten Abendkleid und schien entzĂŒckender und unwiderstehlicher zu sein als je zuvor.

“Meine Schwester ist letztendlich mit einem Mistkerl, der in unserer NĂ€he wohnt, weggegangen. Lass uns abhauen, es ist fast neun!”

“Sicher”, sagte Christian etwas verwirrt, als er wieder zu sich kam, “ich habe gehört, im Luziferkino lĂ€uft ein interessanter Film, nach Walter Scott gedreht, Ivanhoe oder so
”

“Lass das, Schatz, wir werden es am Tatort erfahren”, lĂ€chelte sie, als beide das Appartement verließen und das Licht hinter sich löschten. Nur das GerĂ€usch des SchlĂŒssels, der zweimal im SchlĂŒsselloch gedreht wurde, war noch von innen zu vernehmen. In einem dunklen Winkel der Wohnung begann eine winzige Spinne langsam und scheinbar mĂŒhelos die Ranken eines dĂŒnnen, durchsichtigen Gewebes zu ziehen, das wie eine unglaubliche, ungeheure Rose aussah


.  | index








 
shim Home of Literature, Poetry and Culture. Write and enjoy articles, essays, prose, classic poetry and contests. shim
shim
poezii  Search  Agonia.Net  

Reproduction of any materials without our permission is strictly prohibited.
Copyright 1999-2003. Agonia.Net

E-mail | Privacy and publication policy

Top Site-uri Cultura - Join the Cultural Topsites!