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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2016-06-24
| [This text should be read in deutsch]
Mit der Zeitlupe
Einige werden langsam geboren, andere in Eile. So auch die Stadtteile. Einige sputen sich, andere durchquerst du nach Jahren und dieselben Leute vor denselben geworfenen Toren, wie ungekämmt, die sich vor lauter Rost nicht zuknöpfen, sitzen auf einem wackeligen Stuhl, der sie kaum trägt, oder auf einer Art eckigem und kaltem Stein von den Betonzäunen der Militäreinheiten. Mihaiță hat mir erzählt, dass einige Steinrahmen vom Friedhof gestohlen haben, um sich damit einen Weg ins Gärtchen zu legen. Warum benötigt man auf dem Friedhof diese Saumverzierungen aus Stein, um von was oder von wem abzugrenzen, warum die Erde belasten? Die Erde drückt sowieso auf den, der die Last unter dem Brustkorb getragen hat. Reicht das nicht? Ein Wort, das mich fasziniert hat, glaubte ich doch als Kind, man könne aus der Brust einen Korb machen. Wenigstens meine rachitischen Nachbarn konnten eine Gauschel voll Wasser mit Kaulquappen ansetzen, bis die Sonne sie zu Kleister machte. Die Gärtchenpfade mit den aus Friedhöfen entwendeten Steinen haben einen bestimmten Sinn. Hier, zwischen den aus Armutsschnüren, aber mit viel gutem Willen geflochtenen Zäunen herrscht eine Atmosphäre der Ruhe, ein Gefühl von „es ist alles gut oder wir haben uns noch nicht geschlagen gegeben“. Wahrscheinlich dieses berühmte „We Shall Overcome“, jeder auf seine Art. Hier in unserer Straße, die Vetter Sandu Gauță, der mit der Geige von der Barriere, Perinița*-Straße getauft hat, spielte sich viel sehr langsam ab, um nicht zu sagen, zu langsam. Die Nachbarn schienen es nicht wie Mutter im Frühling mit der Ordnung eilig zu haben, nachdem der Winter sie und ihre Ordnung durch die Läden, Gärten und Dachböden zerstreut hatte. Gemächlich verrichteten sie eine Arbeit nach der anderen und dann lange Zeit nichts. Sie beeilten sich weder zu verkaufen, noch ihre Häuser von Grund auf zu reparieren, als die große Freiheit kam. Jetzt ist es aber so, dass mir die Langsamen besser gefallen als die, die es eilig haben, alles zu sammeln, alles zu verkaufen, ohne abzuwägen, was sie mal waren, sich und ihr Leben vergeudend, als würden sie von heute auf morgen einen aus von ihnen bereisten Ländern kopierten Wohlstand erleben oder aus den TV-Werbesendungen, die sie noch mehr betäuben als der getaufte Schnaps von anno dazumal. Ich sag’s ja nicht, aber vielleicht brachten sich die Langsamen aus unserer Straße oder aus dem noch bis gestern gemütlichen Stadtteil Rahova, durch das die vorbeiziehenden Schafe den Stadtrand streiften, nicht um mit dem Abwägen und vieles blieb unverändert, zumindest in unserer Straße. Um das Abwiegen kümmern sich jetzt die wenigen Pferdewagen, die noch eine Genehmigung haben, die Randviertel von Bukarest zu befahren, mit Melonen, Alteisen oder durchlöcherten Möbelstücken aus allen Zeiten. Die Stimmen der Melonenverkäufer haben den Klang der Flaschensammler von vor drei Jahrzehnten. Dieser sehr lange Messerschneideton, der dir an die Schädeldecke hämmert, und du dich fragst, ob der Schreier kein Halsweh bekommt. Kopfschmerzen habe ich keine von seinem grotesken „Kaufe Flaschen“, aber ich vergesse es auch nicht. Sogar im Zentrum, zwischen den Blocks mit mehr als sechs Stockwerken neben dem CiÈ™migiu wirken die Stimmen der Alteisensammler oder der Melonenverkäufer wie Pfeile, die sich dem Lauf der Zeit widersetzen. Die Stadt ist noch nicht aufgewacht, sträubt sich dagegen, einen Platz für alte Sachen zu suchen, den sogenannten Sperrmüll. Wahrscheinlich hatten wir früher nicht so viel, also gab es kaum etwas zum Wegschmeißen, oder es fiel dir überhaupt nicht ein, etwas wegzuwerfen, wir gaben es höchstens anderen, die sich darüber riesig freuten und schnell einen Platz für jedes Regal, Stühlchen oder Nippstückchen fanden. Was das Wiegen anbelangt: In der Kindheit fand das Wiegen im Aprozar* - welch ein seit Jahren unausgesprochenes Wort! -, beim Metzger, beim Kalkhändler und beim Arzt statt. Nicht jeder hatte zu Hause eine Waage. Wenn wir in der Haltestelle an der Barriere vor dem Haus von Costică dem Kalkhändler und seiner Niculina, die eingewickelt in Kopftücher und Schals unter chronischen Kopfschmerzen litt, standen, war ihr Tor immer offen, damit die Pferdewagen hineinfahren konnten, um Kalk, Schotter, Zement oder Dosen mit Farbe zu kaufen. Für das Vordach, den Zaun, die Wand des Geschäfts, für die Pfosten auf der Grundstücksgrenze zu den Nachbarn …, das Anstreichen war eine Kunst, die damals aber den Blick des Vorbeigehenden nicht abstumpfte. Heute setzt du eine Sonnenbrille auf, um die Balkone zwischen Chirigiu und dem Rahova-Platz nicht zu sehen. Eine Art Sonnenstich auf der Netzhaut. Welch ein Glück, die Bewohner haben ihre eigenen Balkone nicht im Blickfeld! Dort bei Costică dem Kalkhändler stand eine riesengroße Waage für Säcke und Natursteine, auf der du dich wiegen konntest, wenn du vor aller Augen auf sie klettertest. Der Spaß war groß, bis der Bus kam. Costică der Kalkhändler hatte das Monopol im Stadtteil inne und saß den ganzen Tag lang mit seinem vom Schnaps und hohen Blutdruck aufgedunsenen Gesicht auf einem Holzstuhl, der wie Vetter Costică vor Alter stöhnte. Ja, denn wer ist noch jung, wer? Eine andere Waage hatten die Leute nur beim Arzt, aber um sein eigenes Gewicht scherte sich keiner. „Oh, was Mutter ein dickes und schönes Mädchen hat“ oder „lass nur, denn die Leute werden ihre Freude an dir haben, du siehst aus wie eine Pfirsich“, das sagte man zu den übergewichtigen Mädchen, Worte die man heute nicht einmal mehr denkt. Das Wiegen hat sich von einem schlichten Bedürfnis zu einer Lebenshaltung gewandelt. Kann sich heute noch jemand ein Leben ohne Waage vorstellen, oder dass man sich in einem Geschäft wiegt, das Zement und Schotter verkauft? Aber damals kam uns das schön und normal vor. Heute befindet sich bei Costică dem Kalkhändler an Stelle des Hofes voller angeketteter Hunde ein bescheidener Laden, der auch Schotter verkauft, aber der Kalk ist in Tüten und die Fröhlichkeit ist gestorben. Die Verkäufer leiden keine Not und wenn du nach etwas fragst, heben sie nicht einmal ihren stumpfen Blick, der sich öffnet wie die Kassenschublade durch das Bedienen des Knopfes, beim Anblick des Geldes, das anscheinend auch müde ist von den Händen, die sich nicht von den farbigen Scheinen trennen wollen. Nur die Fuhrmänner haben noch die Aura von anno dazumal, wie sie sich in ihren Unterhemden auf krumme Schaufeln stützen und alles, was sich rührt, durch breite Zahnlücken angrinsen. Unverändert blieb nur der getaufte Schnaps aus der Gegend, den sie in abgedunkelten Scheunen brennen, um mit niemand teilen zu müssen. An einem einzigen Türen-Geschäft an der Barriere, wo früher Tante Ioana und ihre Tochter Olimpia Sonnenblumenkerne verkauften, sitzt ein altersloser Verkäufer auf einem heruntergekommenen, im löchrigen Gehsteig eingewurzelten Stuhl. Unternehmer geworden, verliert sich sein Blick in der Ferne wie bei Costică dem Kalkhändler, den Anschein erweckend, dass er tiefgründig nachdenkt oder versucht, sich an etwas zu erinnern. Nach seinem erdigen Teint urteilend, glaube ich nicht, dass er an hohem Blutdruck leidet, aber ich würde mich auch nicht trauen, mir vorzustellen, dass er sich sein Leben als Privatmann nicht mit Schnaps erleichtert. Ich war einen Sack Zement kaufen. Er flüsterte mir sanft zu, mit dem Kassier zu sprechen. Der las die Zeitung, mir mit gesenktem Blick zu verstehen gebend: Ich habe keine Zeit. - Aber was machen Sie, fragte ich ihn. - Siehst du nicht, ich lese … - Gut, gut, ich habe es eilig, bin mit dem Taxi und alles kostet … - Dich vielleicht, wir beeilen uns nicht. Nur auf eine solche Antwort war ich nicht vorbereitet. Ich hätte am liebsten auf einen Kauf verzichtet und erwog schon, mit dem Taxi durch das Viertel zu fahren, um bei einem Händler zu kaufen, der wirklich auch verkaufen wollte, aber der Blick des Taxifahrers sagte mir: Komm Frau, alle sind so. Der Kassier war jung, las wirklich die Zeitung, hatte eine Uhr, Markenkleider, die obligatorische Sonnenbrille, und er war Kassier in einem ganz kleinen Hof, mit einigen verbarrikadierten Türen, die niemand gehörten, ein paar Säcken, alles in einer Unordnung, die nicht an ein Geschäft erinnerte. - Und wann sind Sie mit dem Artikel fertig? - Hör zu, willst du nur einen Sack Zement kaufen? - Ja, aber jetzt, nicht wenn du die Zeitung ausgelesen hast! - Eh, siehst du, du bist nicht richtig eingestellt, sagte er. Für einen Sack Zement hättest du dich nicht bemühen müssen, ein Taxi zu nehmen. Du brauchst bestimmt auch eine Tür, eine Klinke. - Ich brauch nur einen Sack Zement … Langsam, sehr langsam stellte er mir die Quittung aus. Er klopfte auf einem müden Rechner wie alles, was es an dieser Wegkreuzung anscheinend gab, und warf mir einen abwesenden Blick zu. Ein älterer Hund als der Stuhl des Inhabers versuchte aus einem schiefen Hundehäuschen zu bellen. Allein der Zaun war neu und perfekt. Der Mann am Eingang, der Besitzer, schien ganz kurz aufgewacht zu sein, als ich mit dem Zementsack an ihm vorbeiging. Die Stadtrandlethargie verschwindet nicht, wenn du einen neuen Zaun machst oder ein Stück Gehweg pflasterst. Die jetzt mit Melonen vorbeifahrenden Fuhrmänner haben es eilig, sie sind nicht mehr die mit den großen, mit schwarzen Hutkrempen aus Seide versehenen Hüten. Mutter sagte, schau, das sind ungarische Zigeuner, sehr stolz und sauber. Und auch die aus der Perinița-Straße waren vor Zeiten blumige Hemden, riefen und sangen, aber wogen nichts aus deinem Garten oder dass sie aufs Stehlen im Viertel aus gewesen wären. Die Familie des Costică der Blumenhändler und seiner Leana waren respektable Menschen. Sie hatten einen adoptierten Sohn, der dann ein bedeutender Kellner im Carul cu Bere* wurde. Leider ist jeder tragisch verschwunden. Vetter Costică wurde verprügelt und ist mit einem Glasauge gestorben, seine Leana, die mit Leidenschaft Papierblumen anfertigte, wurde immer religiöser und kehrte in ihr Dorf zurück, in dem sie von der Welt vergessen starb, und Viorel ist an Muskelschwund gestorben, eine Familie mit mehreren Kindern zurücklassend, eine Zigeunerfamilie aus der Perinița-Straße, die, wie es sich gehört, Malereien mit Pfauen auf den Wänden hatte, einen Wagen und ein Pferd, zuverlässige Menschen. Zumindest das Viertel kannte sie nicht anders. Im vergangenen Sommer mit zu viel Hitze und Gelsen waren wir eines Nachts im Hof. Wir saßen um den Tisch und beobachteten die Sterne. Auch im Westen gibt es Sterne, aber du siehst sie selten, mal sind zu viele Wolken, mal schläfst du vor Müdigkeit nach so viel Tag- und Nachtarbeit ein. Und wie wir so in einer von einigen im Mondschein hervorgekommenen Grillen in Scheiben zerschnittenen Ruhe dasaßen, sie vom Weinberg träumend, den es nicht mehr gibt, ich von den Pflaumen, die nicht mehr reifen, weil sie nicht mehr sind, von den Schulden für irgendeine Blechtafel auf dem Haus, sah ich in der Mitte des Hofes einen Jugendlichen. Er war hinter einer Ecke aus einem Wagen über den Zaun gesprungen, hatte ein Messer in der Hand und grüßte nicht, ich nehme an aus Zeitmangel und Aufregung. Der Hund, Haustier, hat ihn nicht gehört. Der Junge aus dem auf ihn wartenden Wagen, schwang sein Werkzeug gemäß seinem Gemütszustand, schnell und ohne große Ãœberlegungen packte er den Hasen, den ich nur für mein Westkind aufgezogen hatte, damit auch es sieht, wie es ist, ein Tier aufzuziehen, wie es dich ansieht, wie viel Arbeit ein anständig, wie Mutter sagte, aufgezogenes Haustier in Anspruch nimmt. Alles was du machst, sollst du anständig machen. Heh, so viel zu ich habe den Hasen anständig aufgezogen, denn in jener Nacht, haben der Wagen und der Junge den armen Hasen aus dem eingezäunten Hof genommen, in meiner Anwesenheit und mit unserem wahrscheinlich von Räubern im Internet träumenden Wolfshund. Mit einem olympiareifen Satz übersprang er den Stacheldrahtzaun, das wie angewurzelte Pferd setzte sich von allein in Bewegung und weg war der Hase. Am Tag danach hat mein Kind ihn vergebens gesucht. Wir haben keinen anderen gekauft, da wir nicht wussten, wie wir ihn in wenigen Wochen an den Hund, den Zaun, die Nachbarn gewöhnen sollten. Ich hatte eine Idee, die ich noch nicht in die Praxis umgesetzt habe: Ich werde Hasen kaufen und sie den Zigeunern vom Ende der Straße schenken, sie wohnen noch dort in Häusern mit Pelargonien auf dem Zaun und in den Fenstern, und ich werde sie bitten, mir so viele zurück zu geben, wie viele mir nach ihrer Meinung zustehen, aber ohne dass sie meine Geduld weiterhin auf die Probe stellen. Das Zusammenleben ist nur beidseitig möglich oder gar nicht. Wir können uns nicht verstellen, dass wir uns nicht gegenseitig sehen, aber auch die Zäune können wir nicht Brett um Brett zerstören, uns das Gehör durchlöchern oder das Sehen abgewöhnen, das geht nicht. [aus dem Rumänischen von Anton Potche] *Worterklärungen Perinița (rum.) = sehr beliebter rumänischer Volkstanz aprozar (rum.) = staatlicher Gemüse- und Obstladen in der kommunistischen Planwirtschaft, wurde auch von anderen ethnischen Gruppen des Landes in ihre Umgangssprache übernommen Carul cu Bere (rum.) = Wagen mit Bier (hier Name eine Wirtschaft) |
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